Leseabend Karl Kraus. Wien, 1911.11.06
Zur Einführung
»Zu meinen Glossen ist ein Kommentar notwendig. Sonst
sind sie zu leicht verständlich.«
(Aus : Pro domo et mundo)
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»SÜDDEUTSCHE MONATSHEFTE-: , . . Sein Geist entflammt sich an der wert¬
losesten Reibfläche, und er ist stolz darauf . . .
SAMUEL LUBLINSKI: ... Ich begreife jetzt, warum Sie sich so an das Alltäglichste,
an eine Litfaßsäule oder die neue Presse, anklammern. Denn eigentlich sind Sie ja
Luft, ätherisches Feuer, und Sie würden zerfließen und verhauchen, wenn Sie sich nicht so zu
sagen als Rettung in den massivsten Stoff flüchteten, den Sie aber durchglühen und
ätherisieren, daß er beinah selber Luft und Äther würde, nur daß irgend ein Erdenrest
Widerstand leistet und die Kontur gewahrt bleibt . . . Ungeheure, ja ungeheuerliche Phan-
tastik, die sich an irgend einem Wiener Droschkenkutscher oder Kellner entzündet.
Sonst kann ich Wortspiele nicht leiden, bei Ihnen (und zuweilen bei Shakespeare) sind
sie wirkliche Metaphysik, rätselhafte Synthese . . ,
»DER BRENNER«: ...An ihm, dem unnahbaren Mitten-unter-uns, an dieser
aggressiven, selbst nicht anzugreifenden Realität höchster Entrücktheit, die wie ein
drohender Spuk in das eitle Echauffement des Tages ragt, hat sich die sechste Großmacht
als eine kapitale Ohnmacht erwiesen, als ein fünftes Rad am Siegeswagen geistiger Kultur,
und nun, da sich dieser Defekt nicht mehr bemänteln läßt, scheint es beschlossene Sache
zu sein, ihn »gelten« zu lassen und seinem Wirken, das sich dem verzuckerwässerten
Gepräge unseres öffentlichen Geisteslebens wie ätzende Säure eingebrannt hat, eine
»Gerechtigkeit« widerfahren zu lassen, nach der kein Hahn mehr kräht . . , Gewiß, dieses
Selbstherrlichen und Selbstverherrlichers Bild ist auch innigerem Verstehen nicht immer
in den wesentlichen Zügen offenkundig; wie mir scheint, vor allem deshalb, weil eine so
beispiellos vexierende Aug' in Aug'-Wirkung davon ausgeht, daß es schwer fällt, es in jene
abgekühlte Distanz zu rücken, die zum Erfassen eines großen Umrisses nötig ist. Es scheint,
daß die geistige Leidenschaft dieses »frivolen« Störenfrieds allen — ; Empfänglichen wie
Unempfänglichen — zu brüsk, fast vergewaltigend, an den Leib gesprungen ist. Und was
die geistig interessierte Öffentlichkeit ihm nicht verzeihen kann, ist, glaube ich, dieses:
daß er nie zur leicht zu rubrizierenden und im Grunde ungefährlichen Sorte der Himmels¬
stürmer ins Blaue hinein gehört hat, sondern als ein handfester, fast pedantisch
emsiger Fassadenzertrümmerer begonnen hat, der — nie zu Tages - Fragen,
immer nur zu T a ges-Ereignissen Stellung nehmend — das wahrhaft nieder¬
trächtige Werk zustande brachte, die Welt voll leeren Grauens bloß zu legen, die
sich hinter dem dekorativen Verputz unserer traditionellen Fortschritts- und Grundfesten-
Pathetik verbirgt. Diese mutige, ursprünglich vielleicht nur übermütige Niedertracht erschien
zu grandios fundiert, als daß sie mit der Etikette nihilistischer Zerstörungswut hätte ver¬
sehen und abgetan werden dürfen. Und in der Tat, wer es im Anbeginn nicht fühlte, der
darf es sich heute eingestehen, da aus dem Chaos dieses verstörten Weltbilds längst eine
Kraft sich aufreckte, stark und schöpferisch genug, sich ein neues Weltbild zu erzeugen.
Heute, da die Schätze einer zehnjährigen kulturellen Schürfarbeit, dem Tagesschutt enthoben,
aller Welt offen liegen, kann es getrost ausgesprochen werden: daß nämlich dieses
publizistische Phänomen, das Karl Kraus heißt, nicht zu erlesen, nur zu erleben ist, indem
es eine geistige Bekanntschaft vermittelt, die man erst tief erlitten haben muß, ehe man
das Recht hat, sich ihrer zu erfreuen. Wer dazu fähig ist, der weiß, daß seiner oft
paradoxalen Ironie kein spielerischer Trieb, sondern die Dämonie einer geistigen Trunkenheit
zu gründe liegt, die es verschmäht, sich Problemen von täglich wechselndem Ewigkeits-
Kurswert an die Rockschöße zu hängen, sondern erdensicher eine Tyrannis avisübt, deren
suggestiver Gewalt wir gleichwohl kaum erliegen würden, wenn sie nicht selbst von einer
Zucht des Denkens beherrscht wäre, die in unseren Tagen geradezu asketisch anmutet.
Und wer sich dessen erst zutiefst bewußt geworden (und die es wissen und davon Zeugnis
geben, sind immerhin bereits auch eine stattliche Gemeinde), der mag sich lächelnd am
Schauspiel einer verlorenen Liebesmühe weiden, dessen Tragikomik darin gipfelt, daß es
sich anschickt, diesen wahrhaft eigensinnigen Geist, der aller Art Tagesgelichter als
ein schmerzhaftes Gestirn aufging, als eine »blendende« Erscheinung hinzustellen.
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»Es ist halt ein Unglück, daß mir zu jedem Lumpen etwas
einfällt. Aber ich glaube, daß es sich immer auf einen abwesenden
König bezieht.«
(Aus : Pro domo et mundo)