Grillparzer, Franz: Brief an Xaverine Dubsky-Kolowrat. Wien, 1847

222. 1817. 1847 J1158 Gnädige Gräfin Ich wollte, früher durch eigene Unpäßlichkeit verhindert, mir gestern die Ehre geben. Ihnen mein persönliche Aufwartung zu machen, fand Sie aber nicht zu Hause, da ich inn für die nächsten Tage über meine Zeit nicht dispreiren kann, will ich nicht säumen, schon jetzt wenigstens schriftlich meine Minung über die Gedichte Ihrer verehrten Tochter abzugeben. Diese Gedichte zeigen enterkennbar Sparen von Talent Ein höchst glückliches Ohr für den Vers, Gewalt des Ausdrucke, eine, villeicht. nur zu tiefe, Empfindung, Einsicht und scharfe Beurtheilungsgabe in manchen der satyrischen Gedichte, bilden sich zu einer Anlage, die Interesse erweckt und deren Kultivierung zu unterlassen wohl kaum in der eigenen Willkühr der Besitzerin stehen dürfte Was noch fehlt ist jene Reife, die den Dichter erst zum Künstler macht, jene durchgehende Verständlichkeit, die den Gedanken ungehen­dort auf den Zuhörer./. oder wohl ger Leser? /. überträgt. Junge Frauenzimmer sind jungen Männern von gleichem Alter an Verstand und Einsicht gewöhnlich um mehrere Jahre voraus; aber eines fehlt ihnen was uns unsere mitunter abgeschmackten methodischen Studien geben. Ordnung in den Gedanken. Daran fehlt es zum Theile dieser Gedichten, namentlich wo sie zu schildern suchen und die Empfindung der Begebenheit störend in den Weg tritt. So viel in allgemeinen und in Eile, Villeicht ist es mir gegonnt Einzelnes und Näheres mündlich nachzutragen. Hochachtungsvoll ergebeister Grillparzer 28