Henckell, Karl: Feldpostkarte an Josef Luitpold Stern. München, 23.6.1916
München, d. 23/6/16
Lieber Freund,
ich danke Ihnen für den
Gruss von der Front, der mir
Ihre Adresse angab! Hoffent=
lich haben Sie bis jetzt alles
gut überstanden. Dass Sie
geistigschaffend mobil geblieben
sind, sah ich mit Freuden aus
Alfons Petzolds Schrift "Der klagende
Spiegel". Auf dies Buch wartet
auch hier Einer ganz besonders,
der in der gleichen Sehnsucht
lebt und webt wie Sie, für das
neue Leben der Welt.
Das Buch wäre doch
etwas für Eugen Diederichs.
Nur einen herzlichen
Gruss heute, von
uns beiden, denn wer kann brieflich sagen, was
[seitlich links:]
Einem das Herz erfüllt? Wir sind
gesund. Immer Ihr Karl Henckell
Gottfried Keller
geb. 19. Juli 1819 zu Glattfelden bei Zürich,
gest. 16. Juli 1890 in Zürich.

Morgen.
So oft die Sonne aufersteht,
Erneuert sich mein Hoffen
Und bleibet, bis sie untergeht,
Wie eine Blume offen,
Dann schlummert es ermattet
Im dunklen Schatten ein,
Doch eilig wacht es wieder auf
Mit ihrem ersten Schein.
Das ist die Kraft, die nimmer stirbt
Und immer weiter streitet,
Das gute Blut, das nie verdirbt,
Geheimnisvoll verbreitet!
Solang noch Morgenwinde
Voran der Sonne wehn,
Wird nie der Freiheit Fechterschaar
In Nacht und Schlaf vergehn.