Jaray, Karl: Brief an Karl Kraus. Wien, 19.10.1934
Wien, 19. Oktober 1934
Hochverehrter Herr Kraus!
Hier sende ich nun das Ergebnis des zweiten Versuches: Zwei
Blätter, das eine mit einem Textentwurf für das Schaufenster bei Lanyi,
das andere, nahe dem unteren Rande perforiert, das dem sich anmeldenden
Hörer auszufolgen wäre. Mit dem Abschnitt vollzieht er seine Anmeldung.
Ich bitte Sie, mir zu verzeihen, dass ich mit solcher Hartnäckig-
keit an der Vorlesungs-Idee festhalte. Ich meine, dass der "kleineren
Gemeinde" doch die versprochene Gelegenheit, sich in Treue und Dankbar-
keit zu Ihnen zu bekennen, nicht vorenthalten werden sollte.
Hochverehrter, lieber Herr Kraus, ich habe gestern mit wahrer
Bekümmernis die neue Verdüsterung Ihrer Stimme gefühlt. So sehr ich
sie in solcher, mir durch Schicksals Gunst gewährten Nähe ohne ein
Wort der Erklärung verstehe und so gut ich begreife, was Sie als der
einzige Ganze in dieser Welt der Halben und Nichteinmalhalben leiden
müssen, so tief ich also den Fluch solchen Ganzseins erfasse, ebenso
tief fühle ich die unbeschreibliche Gnade einer Höhe, in der es einsam
sein muss. Könnte doch ich, ein nur hie und da etwas mehr als Halber,
dessen Tun und besonders dessen Unterlassen Ihnen als Schwäche erscheint,
Ihnen im Spiegel den Trost vor Augen rücken, den Sie selbst uns gegeben
haben, ihn, nachdem Sie das Weh der Welt in das grösste und herrlichste
Kunstwerk aufgelöst haben, in einen einzigen Satz zusammenfassend:
"Das ABC entschädige uns für das überstandene WEHE!"
Ihr dankbarer Hörer
Karl Jaray
Das städtische Elektrizitätswerk hat versprochen, morgen Samstag
pünktlich 9 Uhr die Abnahme der Schaltuhr vorzunehmen und sie gleich im
Untergeschoss zu montieren. Der Obermonteur der AEG wird dabei sein und