Jastrow, Ignaz: Brief an Heinrich Friedjung. Berlin, 10.12.1914
Falle eines entscheidenden Sieges Rußland vom Schwarzen
Meere abzudrängen. Ob ich in der literarischen Erörterung
es für zweckmäßig halte, in einem frühen Stadium, um
die Gemüter erst einmal zum Nachdenken anzuregen, die
Aufteilung Rußlands als notwendig hinzustellen, ist dabei
unwesentlich. Worauf es ankommt, ist die Wegdrängung
vom Schwarzen Meer. Bei uns ist gegenwärtig alles
vom Haß gegen England beherrscht. Allerdings hat Eng=
land zu diesem Haß so viel Anlaß gegeben, wie schwerlich
schon jemals eine Nation. Aber so weit darf man im
Haß doch niemals gehen, daß man die eigene Sicherheit aus
den Augen verliert. Wenn die Vernichtung Englands im
Bereich der Möglichkeit liegt und verwirklicht wird, so
würde Rußland aus der Niederlage stärker als je hervor=
gehen. Denn kein Krieg wäre imstande gewesen, Ruß=
land das zu schaffen, was ihm diese Niederlage beschaffen
würde: die Befreiung von dem einzig gefährlichen Rivalen,
das ist der Grund, weswegen ich mich für die Bestrebungen der Ukrainer
interessiere. Dieses vergessene Volk müßte jetzt im Mittel=
punkte aller Bestrebungen stehen. Die Sachverständigen, die uns
belehren, daß es ein ukrainisches Volk in Wahrheit gar nicht gäbe,
daß es nur eine dünne Oberschicht von Intellektuellen sei, sind
aus verschiedenen Gründen für die Aufstellung eines der=
artigen Friedensprogramms nicht bindend. Sie haben zwar über
diese Sachverständigen eine andere Meinung, und Sie führten zu
deren Gunsten das Argument an: es habe sich ja auch in
Böhmen gezeigt, daß die Agitation der Kramarcz und Genossen
für das böhmische Volk keinerlei Bedeutung habe. Halten Sie
dieses Argument auch heute noch aufrecht? Es wäre für mich