Kienzl, Wilhelm: Korrespondenzkarte an Lili Kienzl. Wien, 19.3.1919
Mein liebes Kind! Wien, 19. März1919.
Eben kommt Deine liebe Karte. Aber der Brief von Frau Köberl
kam nicht. Wohl die Zeitungsausschnitte. Das gewünschte Buch wer-
de ich Dir besorgen, obwohl es praktischer wäre, Du bestelltest es in
der Gmundener Buchhandlung, weil die Schickerei per Post mir unsicher
scheint. Aber ich werde es doch selbst besorgen. Wegen mir sei doch
unbesorgt! Es ist ja rührend lieb, dass Du um mich Sorge hast; sie
ist aber grundlos. Von Grippe keine Rede. Denk' Dir: da die Geschichte
nicht gut wurde u. mir besonders das Essen weh tat u. alles Gurgeln nichts
nützte, ging ich gestern zu einem ersten Professor in die Ordination.
Dieser untersuchte mich mit dem Kehlkopfspiegel u. stellte ein arges
Geschwür fest, das er sofort cocaïnisierte u. mit Lapis ausbrannte.
Meine scharfen Stockzähne rechts waren schuld. Er schickte mich gleich zum
Zahnarzt, der mir die Zähne abschleifen mußte. Ich verdanke diesen Ent-
schluss dem unausgesetzten Drängen von Jüllig's u. Henny, die mich da-
mit retteten; denn der Professor sagte, dass auf diese Art Carcinome
(Krebs) sich bilden. So ein Zungenkrebs wäre wahrlich kein Spaß ge-
wesen. Nun ist's aber ganz gut, das Geschwür völlig beseitigt! Dem Professor