Kraus, Karl: Brief an Friedrich Austerlitz. o.O., 6.11.1924
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6. November 1924
Lieber, Verehrter Herr Austerlitz !
Da in der mündlichen und gar telephonischen Debatte durch eine
allzu temperamentvolle Verteidigung eines Unwerts, den Sie wiederholt in
Uebereinstimmung mit mir preisgegeben hatten, leicht Vergröberungen auf
beiden Seiten und Missverständnisse entstehen, die mir bei der ernsten
Schätzung ihrer Menschlichkeit schmerzlich wären, so ziehe ich es vor, die
Debatte mit der schriftlichen Erklärung zu schliessen, dass ich diese Ihre
Haltung als weit achtenswerter empfinde als die eines Mannes, der
alles das, war er öffentlich vertreten hat, hinterher privatim preisgibt
mit dem Versprechen, dass er es auch öffentlich tun werde, und der dieses
Versprechen nicht hält. Dies, die völlige Standpunktlosigkeit und Abhängig-
keit von der eigenen Schwäche in der Führung und Vertretung von Angelegen-
heiten, die ich im Gegensatz zu Ihnen und wie mich das Gespräch belehrt
hat, auch zu Ihrer Partei für lebenswichtig halte - nicht die Fülle von
Widerwärtigkeiten, mit denen dieser Mann drei Monate meines Lebens vergällt
hat und die allerdings durchaus zu der Verantwortungslosigkeit der öffent-
lichen Gebarung passen, bildet die Basis des Urteils, das ich über ihn mir
gebildet, vor Ihnen nicht verleugnet habe und nicht zurückziehen werde. Ich
bin in der Lage, zu beweisen, dass das Verhalten eines Menschen, der so
gegen mich gehandelt hat, so wenig auch nur einen Finger gerührt hat, um
das Wirrsal aus - zugegeben - Schlampereien und Taktlosigkeiten zu beseiti-
gen, nicht anständig ist.
Ferner wiederhole ich deutlicher als ich sagen konnte, dass ich ,
gern geneigt, öffentlich wirkende Personen bei dem Wort, das sie von sich
geben,zu nehmen, ein starkes Missbehagen bei der Vorstellung empfinde, dass
die Persönlichkeit, die mich zu meinem Geburtstag mit so stürmischen Worten
ihrer Hochschätzung versichert hat,hinlänglich und von autoritativster Seite
über meine vielfachen sachlichen und persönlichen Beschwerden unter-
richtet, nichts veranlasst hat, um mich auch nur wissen zu lassen, dass er
die Gründe dieser Beschwerden missbilligt, im Gegenteil eine Rede gehalten
hat, die von ihrem sonstigen schönrednerischen Gehalt abgesehen alle derarti-
gen Beschwerden in das Gebiet des "Nörglers" schiebt, was wohl die landläufi-
ge Methode jener Mächte war, zu der Ueberwindung er mich beglückwünscht
hat. Damit ist, ganz jenseits der absoluten Zweifelhaftigkeit der
durch kein Amt und keine Repräsentationspflichten zu deckende Phrase jeden-
falls die bescheidene Vermutung, dass er Wert auf das Urteil eines Künstlers
legt, den er gelegentlich bewundert, hinfällig geworden.
Zu der wichtigeren Sache selbst, die hinter den unwichtigeren Per-
sonen mir am Herzen liegt, bemerke ich, dass ich Ihre Erklärung, die Agenden,
deren kulturelle Bedeutung ich überschätzt habe, seien im Grunde bloss die
eines Theaterkartenverkäufers und zu Zeiten eines Fremdenführers, zur Kennt-
nis nehme. Natürlich war es dann mein Fehler, solchen Kommissionen meine
Hoffnung, beziehungsweise meine Unterstützung zuzuwenden.
Ich bleibe in hoher Wertschätzung Ihr
Karl Kraus