Linke, Karl: Brief an Andreas Thom. Wien, 27.4.1915
Wien, 27. 4. 15.
Liebe Thom,
Heute bin ich zum ersten Male ein bißchen sehr unglücklich. Ich weiß,
es ist eine Gemeinheit, Euch immer mit meinen Sorgen zu belästigen,
die Ihr doch längst überwunden habt und froh sein müsset, davon nichts
mehr hören zu müssen. Aber ich kann ja nicht anders. Ich muß einen
Fehler gemacht haben; wir waren heute beide unruhig, teilweise fieber=
haft aufmerksam zueinander, dann wieder zerstreut und verwirrt. Ich
habe wahrscheinlich das Zusammentreffen mit der Mutter, die nun doch den
Wunsch hat, mich kennen zu lernen, etwas zu heftig betrieben. Jede
gewaltsame Abkürzung des Weges rächt die Natur. Ich sagte ihr auch, daß
wir am Sonntag allein nach Gersthof fahren würden. Das beunruhigte sie
sehr; nicht Euretwegen, sondern als Sache an sich und ihrer Mutter wegen.
Diese sagte zu ihr: „Daß er Dich von der Schule nach Hause begleitet, wird
niemand hindern wollen; aber Sonntags allein mit ihm ausgehen,
das bringt Dich ins Gerede, das kann nicht geschehen.” Ich sehe es wohl
ein, daß sie damit irgendwie recht hat. Aber ich weiß damit auch,
daß ich in absehbarer Zeit mit ihr nicht zu Euch kommen kann. Ich
weiß nicht, was ich tun soll. Darüber war auch sie heute innerlich
stark aufgeregt. Sie brächte es wohl zuwege, ihren Willen durch=
zusetzen, aber nur einmal; denn dann würde sie von früh bis abend
die Vorwürfe der Mutter zu hören haben, tagelang und wochenlang.
Das hält sie nicht mehr aus. So hat sie 28 Jahre gehabt. Nun ist ihre
Kraft zu Ende. Ihr größter Schmerz ist es, daß ich jetzt in all diese
Dinge, die sie bisher allein ertragen hat, hineingeraten muß. Sie
ist verzweifelt darüber. Sie weiß aber gar nicht, wie man das verhindern
kann. Sie schämt sich so sehr, daß ich jetzt das alles sehen und hören
soll. Wir sind mit so unbestimmten und zerrissenen Empfindungen
auseinandergegangen, daß ich mich überhaupt nicht ausgekannt
habe. Aber vielleicht darf ich dies nicht zu ernst nehmen; vielleicht
lacht sie morgen und wir sprechen von was Anderm. Aber ich bin
in Sorge. Ich fühle, daß ich allein ein verlorener Mensch bin.
Es grüßt Euch Euer Linke.