das Verhalten des Chores erscheint dialektisch allzu autonom, auf sich selbst
bezogen, um die Wirkung von aussen, oder doch sinnlich deutbar bewegender Eryn-
nien zu ersetzen, deren Auftreten aus stilistischen Gründen verwehrt ist.
Allerdings räume ich ohne weiteres die Möglichkeit ein, dass gerade in diesem
Punkte, was die Wirkung des Chores betrifft, sowohl musikalisch wie bühnen-
mässig eine wesentliche Änderung der ganzen Sachlage statthaben kann. Was im
Text selbst die Schärfe des Kontrasts der beiden Oreste abstumpft, ist die
kurz zuvor gesetzte Wirkung des Schicksals der Elektra, das sich mit einer
ausserordentlich eindringlichn Logik nicht der Dialektik sondern des Gefühls
vollzieht. Ihr, die mit ihrer hysterischen Verbohrtheit wenigstens für das
Gefühl alles Unglück erst auf die Spitze getrieben hat, die bei allem vorge-
wendeten Gerechtigkeitsfanatismus, wie man fühlt, in einer viel tieferen und
un-bedingteren Weise böse ist als Ägist, ihr widerfährt dieses Ende folgerich-
tig. Aber es hat Grösse, es ist das letzte Opfer, das der Zwang ihrer Natur
erheischt, sie selbst. Gegen diese überscharfen Akzente muss, nach den Regeln
der Kontrastwirkung alles doppelt so stark abfallen, was sie nicht nach der for-
malen wie nach der Seite der affektiven Wirkung übersteigert. Da ich aber an-
dererseits daran festhalte, dass man bei der Opernaufführung den Text ohnehin
keine drei Worte weit folgen kann, entfallen für Orest alle dialektischen
Schwierigkeiten und es ist sehr wohl möglich, dass man ihm die Verzweiflung,
ebenso als Tatsache glaubt,wie die Entrückung der Iphigenie,das rationalisti-
sche Wunder etc. A propos dialektische Schwierigkeiten: Die Interpretation
dieser Entrückung der Iphigenie und des Anteils Agamemnons daran habe ich ab-
solut nicht verstanden. Zuletzt der Einwand, der sich weniger gegen den Text
als die stoffliche Gestaltung der Fabel richtet, die Vorgänge bei König Thoas.
Ich weiss nicht, ob es Deine Absicht ist, dass Thoas so, wie soll ich sagen,
als Privatmann wirkt. Man glaubt nicht recht, oder besser spürt nicht recht,
dass das ein König ist. Das ganze Milieu istb etwas dünn geraten. Ich könnte
selbst nicht sagen, woran es liegt. Die Ökonomie desGanzen verbietet selbstver-
ständlich eine breitere Ausbildung dieser Episode. Das ist mir klar. Gleich-
viel - das mag alles angehen, ist Angelegenheit der Gesamtstimmung, die ja
bühnenmässig weitgehend zu modifizieren ist, aberder verblüffende Abschluss
dieser kreuzweisen Paarung, das ist eine schlimme Geschichte. Das hast Du Dir
zu bequem gemacht, nimm mirs nicht übel, ich weiss, Du tusts nicht,- auch für
Opernansprüche zu bequem. Das Ganze hat ein viel höher reichendes Format; das
ist eine Entgleisung. Aber als Deus ex machina, ich protestiere. Wenns noch
Cupido wäre! Das drückt den ganzen Schluss. Vor dem Areopag stehen vier Pri-
vatleute, nicht vier Schicksale. Das ist die Sache. -
Es wäre nun sehr interessant und aufschlussreich, für künftige
Beurteilung von Texten von grossem klärenden Nutzen, die Oper aufgeführt zu
sehen, um die Differenzen festzustellen zwischen dem, was der Text voraus-
bestimmen lässt und dem, was dann ganz anders eintritt. Vielleicht liessen sic[h]
dabei grunsätzliche Erfahrungen machen. Zu diesem Behufe halte ich mir einen
Durchschlag zurück und hoffe, dass ich einmal in der Lage sein werde, das Expe
riment zu machen.Bis dahin lasse ich's also „beim Rade bewenden.” Gleichwohl den-
ke ich, dass solche Untersuchungen, an sich selbst gemessen, nicht ganz ohne
Nutzen seien, wenn man auch einräumt, dass ihnen der vorliegende Fall viel-
leicht weniger Stoff als Anlass geboten hat.
Für die Kartengrüsse herzlichen Dank, auch allen Beteiligten, wenn
ich bitten darf. Hoffentlich bald auf Wiederhören. Alles Herzliche!
3 Anbruch-Hefte mit vielem Dank! Besonderen Glückwunsch zur
ausgezeichneten Formulierung d. Bgr. "Kitsch". Im übrigen durchaus
einverstanden. Der „Original Brief” folgt noch. Entschuldige
überhaupt Verzögerung! Schicke noch zwei Sachen mit. Bitte bei
Gelegenheit zurück. Nochmals Herzlichst!
Dein
G.H.Goering.
8.VII.29.
bezogen, um die Wirkung von aussen, oder doch sinnlich deutbar bewegender Eryn-
nien zu ersetzen, deren Auftreten aus stilistischen Gründen verwehrt ist.
Allerdings räume ich ohne weiteres die Möglichkeit ein, dass gerade in diesem
Punkte, was die Wirkung des Chores betrifft, sowohl musikalisch wie bühnen-
mässig eine wesentliche Änderung der ganzen Sachlage statthaben kann. Was im
Text selbst die Schärfe des Kontrasts der beiden Oreste abstumpft, ist die
kurz zuvor gesetzte Wirkung des Schicksals der Elektra, das sich mit einer
ausserordentlich eindringlichn Logik nicht der Dialektik sondern des Gefühls
vollzieht. Ihr, die mit ihrer hysterischen Verbohrtheit wenigstens für das
Gefühl alles Unglück erst auf die Spitze getrieben hat, die bei allem vorge-
wendeten Gerechtigkeitsfanatismus, wie man fühlt, in einer viel tieferen und
un-bedingteren Weise böse ist als Ägist, ihr widerfährt dieses Ende folgerich-
tig. Aber es hat Grösse, es ist das letzte Opfer, das der Zwang ihrer Natur
erheischt, sie selbst. Gegen diese überscharfen Akzente muss, nach den Regeln
der Kontrastwirkung alles doppelt so stark abfallen, was sie nicht nach der for-
malen wie nach der Seite der affektiven Wirkung übersteigert. Da ich aber an-
dererseits daran festhalte, dass man bei der Opernaufführung den Text ohnehin
keine drei Worte weit folgen kann, entfallen für Orest alle dialektischen
Schwierigkeiten und es ist sehr wohl möglich, dass man ihm die Verzweiflung,
ebenso als Tatsache glaubt,wie die Entrückung der Iphigenie,das rationalisti-
sche Wunder etc. A propos dialektische Schwierigkeiten: Die Interpretation
dieser Entrückung der Iphigenie und des Anteils Agamemnons daran habe ich ab-
solut nicht verstanden. Zuletzt der Einwand, der sich weniger gegen den Text
als die stoffliche Gestaltung der Fabel richtet, die Vorgänge bei König Thoas.
Ich weiss nicht, ob es Deine Absicht ist, dass Thoas so, wie soll ich sagen,
als Privatmann wirkt. Man glaubt nicht recht, oder besser spürt nicht recht,
dass das ein König ist. Das ganze Milieu istb etwas dünn geraten. Ich könnte
selbst nicht sagen, woran es liegt. Die Ökonomie desGanzen verbietet selbstver-
ständlich eine breitere Ausbildung dieser Episode. Das ist mir klar. Gleich-
viel - das mag alles angehen, ist Angelegenheit der Gesamtstimmung, die ja
bühnenmässig weitgehend zu modifizieren ist, aberder verblüffende Abschluss
dieser kreuzweisen Paarung, das ist eine schlimme Geschichte. Das hast Du Dir
zu bequem gemacht, nimm mirs nicht übel, ich weiss, Du tusts nicht,- auch für
Opernansprüche zu bequem. Das Ganze hat ein viel höher reichendes Format; das
ist eine Entgleisung. Aber als Deus ex machina, ich protestiere. Wenns noch
Cupido wäre! Das drückt den ganzen Schluss. Vor dem Areopag stehen vier Pri-
vatleute, nicht vier Schicksale. Das ist die Sache. -
Es wäre nun sehr interessant und aufschlussreich, für künftige
Beurteilung von Texten von grossem klärenden Nutzen, die Oper aufgeführt zu
sehen, um die Differenzen festzustellen zwischen dem, was der Text voraus-
bestimmen lässt und dem, was dann ganz anders eintritt. Vielleicht liessen sic[h]
dabei grunsätzliche Erfahrungen machen. Zu diesem Behufe halte ich mir einen
Durchschlag zurück und hoffe, dass ich einmal in der Lage sein werde, das Expe
riment zu machen.Bis dahin lasse ich's also „beim Rade bewenden.” Gleichwohl den-
ke ich, dass solche Untersuchungen, an sich selbst gemessen, nicht ganz ohne
Nutzen seien, wenn man auch einräumt, dass ihnen der vorliegende Fall viel-
leicht weniger Stoff als Anlass geboten hat.
Für die Kartengrüsse herzlichen Dank, auch allen Beteiligten, wenn
ich bitten darf. Hoffentlich bald auf Wiederhören. Alles Herzliche!
3 Anbruch-Hefte mit vielem Dank! Besonderen Glückwunsch zur
ausgezeichneten Formulierung d. Bgr. "Kitsch". Im übrigen durchaus
einverstanden. Der „Original Brief” folgt noch. Entschuldige
überhaupt Verzögerung! Schicke noch zwei Sachen mit. Bitte bei
Gelegenheit zurück. Nochmals Herzlichst!
Dein
G.H.Goering.
8.VII.29.