ich Dich recht verstehe, sondern das Interesse des Geistes gegenüber dem Ungeist. Nun
glaube ich nicht, daß der Geist heute nur auf seiten der Arbeiter, der Ungeist jedoch
nur bei den Bourgeois zu finden sei. Im Grunde gibt es ja keine klassenbewußten Pro-
letarier, denn Proletarier sein heißt: Bürger sein wollen, sei es auch uneingestandener-
maßen. Und das geistige Agens, das Menschen unserer Art hinter der Arbeiterbewegung zu
spüren hoffen, wird wohl nur von uns als Illusion herangebracht, indem wir, auf der krampfhaften Suche nach der uns zur Verfügung stehenden Vielzahl von Hörern, wünschen,
es möchte so sein, daß die Proletarier nach dem Geist lechzen und nur durch die bürger-
liche Kultur verhindert werden, seiner teilhaftig zu werden, weil man sie durchs Radio
verseucht. Ich meine, daß der Zugang zum Geist immer nur eine Sache der Einzelnen ist,
gleichgültig aus welcher sozialen Gegend sie daherkommen. Demzufolge ist auch der tech-
nische Fortschritt nicht allein dem kindlichen Gemüt einer unschuldsvollen Arbeiter-
schaft verderblich, sondern jedem schwachen, aber bildsamen Geist, d. h. dem aufnahms-
fähigen und interessierten, aber noch unvorbereiteten Publikum, mit dem wir rechnen
können - sollten. Und dieses meinst Du wohl auch, wenn Du den Gegensatz "bürgerliche
Kunst - Arbeiterschaft" aufstellst, denn bei allen Trostlosigkeiten, die das Bürgertum
hervorgebracht hat, ist ja nicht zu vergessen, daß wiederum die geistigen Höchstleistun-
gen auch aus dieser Sphäre sozialen Lebens stammen, womit nichts zugunsten verkrachter
Ideologien, sondern alles gegen jegliche phrasenhafte Verallgemeinerung der Vielfalt und
Lebensfülle gesagt sein soll. Wahrscheinlich sind alle diese Belange für die Existenz
geistiger Werte viel weniger relevant als es uns im Lichte der soziologischen Betra-
chtungsweise der letzten zehn Jahre geschienen haben mag. -
Ueber die - höchst wünschenswerte - praktische Verwendbarkeit Deiner Aufsätze
wirst Du selbst Dich wohl ohnedies keinen Illusionen hingeben. Wie soll auch etwa ein
Fachblatt wie der "Anbruch" solches abdrucken, wo es doch gezwungen ist, "jeden Früh"
den Schöpfer zu loben, der da Inserate aufgibt und zur Revanche für die freundliche
Publizität wiederum die vom Verlag annoncierten Werke, übrigens durchaus zum materiel-
len Wohl der Autoren, in den wehrlosen Aether sendet? Nun ja, c'est la vie...
Also nochmals herzlichen Dank für alles und alles Gute weiter! Lass' wieder mal
etwas hören und schicke wieder etwas Erbauliches - es macht stets Freude und Anregung!
Herzliche Grüße auch Deiner Frau
immer Dein
Wien, 3. 8. 29.
Ich bin wohl bis Ende des Monats bestimmt hier, dann wohl einige Zeit un[...]
glaube ich nicht, daß der Geist heute nur auf seiten der Arbeiter, der Ungeist jedoch
nur bei den Bourgeois zu finden sei. Im Grunde gibt es ja keine klassenbewußten Pro-
letarier, denn Proletarier sein heißt: Bürger sein wollen, sei es auch uneingestandener-
maßen. Und das geistige Agens, das Menschen unserer Art hinter der Arbeiterbewegung zu
spüren hoffen, wird wohl nur von uns als Illusion herangebracht, indem wir, auf der krampfhaften Suche nach der uns zur Verfügung stehenden Vielzahl von Hörern, wünschen,
es möchte so sein, daß die Proletarier nach dem Geist lechzen und nur durch die bürger-
liche Kultur verhindert werden, seiner teilhaftig zu werden, weil man sie durchs Radio
verseucht. Ich meine, daß der Zugang zum Geist immer nur eine Sache der Einzelnen ist,
gleichgültig aus welcher sozialen Gegend sie daherkommen. Demzufolge ist auch der tech-
nische Fortschritt nicht allein dem kindlichen Gemüt einer unschuldsvollen Arbeiter-
schaft verderblich, sondern jedem schwachen, aber bildsamen Geist, d. h. dem aufnahms-
fähigen und interessierten, aber noch unvorbereiteten Publikum, mit dem wir rechnen
können - sollten. Und dieses meinst Du wohl auch, wenn Du den Gegensatz "bürgerliche
Kunst - Arbeiterschaft" aufstellst, denn bei allen Trostlosigkeiten, die das Bürgertum
hervorgebracht hat, ist ja nicht zu vergessen, daß wiederum die geistigen Höchstleistun-
gen auch aus dieser Sphäre sozialen Lebens stammen, womit nichts zugunsten verkrachter
Ideologien, sondern alles gegen jegliche phrasenhafte Verallgemeinerung der Vielfalt und
Lebensfülle gesagt sein soll. Wahrscheinlich sind alle diese Belange für die Existenz
geistiger Werte viel weniger relevant als es uns im Lichte der soziologischen Betra-
chtungsweise der letzten zehn Jahre geschienen haben mag. -
Ueber die - höchst wünschenswerte - praktische Verwendbarkeit Deiner Aufsätze
wirst Du selbst Dich wohl ohnedies keinen Illusionen hingeben. Wie soll auch etwa ein
Fachblatt wie der "Anbruch" solches abdrucken, wo es doch gezwungen ist, "jeden Früh"
den Schöpfer zu loben, der da Inserate aufgibt und zur Revanche für die freundliche
Publizität wiederum die vom Verlag annoncierten Werke, übrigens durchaus zum materiel-
len Wohl der Autoren, in den wehrlosen Aether sendet? Nun ja, c'est la vie...
Also nochmals herzlichen Dank für alles und alles Gute weiter! Lass' wieder mal
etwas hören und schicke wieder etwas Erbauliches - es macht stets Freude und Anregung!
Herzliche Grüße auch Deiner Frau
immer Dein
Wien, 3. 8. 29.
Ich bin wohl bis Ende des Monats bestimmt hier, dann wohl einige Zeit un[...]