Kammerer, Paul: Brief an Margarete Jodl. Wien, 1.2.1914
Beantw.
Wien 1. II. 1914
Hochverehrte Frau!
Wenn ich auf die Todesnachricht, die Sie mir gütigst geschickt
haben, mit einigen Zeilen erwidere, so geschieht es nicht in der
üblichen Weise als „Kondolenzbrief“ und „um zu trösten“ (!);
sondern weil ich, indem ich Ihnen schreibe, selber - zwar nicht Trost -
aber doch wenigstens eine tröstliche Empfindung zu fühlen hoffe.
Und wenn ich mehrere Tage vergehen ließ, ehe ich diesen Vorsatz,
diese „Pflicht“ ausführte, so geschah es wiederum, weil ich mich nicht
gleich daran wagen durfte, die rechten Worte zu finden. Noch jetzt
bin ich weit entfernt davon und wende mich in Ihnen, verehrte Frau,
gewiss an keine inkompetente Stelle, wenn ich Sie bitte, mir zu
vergeben.
Ich betrauere in Jodl unter vielen anderen Eigenschaften,
um deretwillen ich seinen Verlust beklage, vor allen Dingen eine
der wenigen Stützen einer freien und aufrechten Weltanschauung,
die es an unserer Fakultät gibt. Nicht leicht kann man sich
bei anderen Hochschullehrern, die auch nicht gerade klerikal
sind oder sonstwie kriechen, so fest darauf verlassen, dass
auch nicht das leiseste Tröpfchen opportunistischen Giftes