Kraus, Karl: Brief an Karl Seitz. Wien, 22.10.1924
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unter keinen Umständen hätte Folge leisten können. Ich spreche Ihnen für
diese Bereitwilligkeit meinen besten Dank aus und teile Ihnen nun-
mehr mit, dass ich ebenso gerne bereit bin, der Einladung zu folgen,
wenn ich auch nur der geringsten Aussicht gewiss sein kann, dass dieser
Empfang einer einverständlichen Beratung zu dienen hätte, auf welche Art
oder in welcher Form Sie als Bürgermeister von Wien zu dieser Angelegen-
heit, an deren richtiger Beurteilung durch Sie als Bürger von Wien niemand
zweifelt, Stellung zu nehmen vermöchten. Wenn also die Basis dieser Unter-
redung Ihre grundsätzliche Einwilligung in meinen Vorschlag wäre: "auf ein
Mittel zu sinnen, den schmählichsten Widerspruch meines Lebens, der in der
Landsmannschaft zweier Leumundsnoten begründet ist, aus der Welt, aus der
Stadt zu schaffen" oder, falls dies nicht möglich wäre, wenigstens ein Wort
des Bedauerns zu finden, dass es nicht möglich ist. Die Vermutung, dass Ihr
Wunsch, mit mir zu sprechen, von solchem Entschluss diktiert sei, wird nicht
zuletzt durch Ihre in einer Gemeinderatssitzung zu einer andern Angelegen-
heit gesprochenen Worte bekräftigt: dass Sie,"so sehr Sie dafür sind, dass
sich jeder in einer solchen Funktion Reserven auferlegt, so sehr anderseits
dafür seien, dass jedermann, unbekümmert was er ist, in welcher Stellung er
sich immer befindet, die absolute Freiheit des Wortes haben muss, wenn er
als freier Bürger spricht". Es besteht also immerhin die Hoffnung, Sie wür-
den - vorausgestzt, aber doch sicherlich angenommen, dass Sie als freier
Bürger mit so vielen anderen und so vielen leidenden Einwohnern der Stadt
die Schmach des Zustands empfinden, in den die Bevölkerung durch den Druck
eines eingewanderten Erpressers geraten ist - doch irgendeiner offiziellen
Form habhaft werden, um der beleidigten Kulturehre Wiens eine Genugtuung zu
verschaffen oder wenigstens die Unmöglichkeit einer Remedur zu beklagen. Nie-
mand würde sich dem Eindruck entziehen können, dass die Ungewöhnlichkeit
dieses autoritären Beginnens, das sehr wohl imstande wäre, dem Uebel Einhalt
zu tun, durch die Ungewöhnlichkeit des Falles, selbst in der Welt der Formen,
hinlänglich gerechtfertigt wäre. Sollte also die von Ihnen gewünschte Unter-