Linke, Karl: Brief an Andreas Thom. Wien, 22.4.1915
geworden bist, Du wirst einmal erkennen, daß ich Dich vor der größten
Gefahr bewahrt habe. Ich will von gar nichts wissen und wenn Du
nicht bald Schluß machst, so verlasse ich Dich, ziehe mich allein aufs
Land hinaus und dann wirst Du sehen, was Du allein anfängst.“
So hat mir Frau Gaß, die es wieder von Emma hat, erzählt.
Einstweilen ertrage ich das noch und kann noch fast lachen über die Angst
einer Mutter vor dem unabänderlichen Schicksal. Aber manchmal
steigt doch ein heimliches Gefühl von Wut herauf, vielleicht deshalb,
weil ich schließlich doch ein bißchen stolz bin und mich nicht so wie
„jedermann“ abtun lassen möchte; dann auch darum, weil sie das alles
anhören muß, während ich, der ja wahrscheinlich die abwehrgewandtere
Zunge hätte, ruhig nach Hause gehen kann. Ich bedauerte sie gestern,
daß sie das alles anhören müsse; aber sie scheint sich nicht viel draus
zu machen. Sie sagte: „Das halte ich gern aus. Es ist vielleicht ganz schön,
daß es so ist. Da kann man kämpfen.“*) Sie war berühmt durch ihre
Energielosigkeit, mit der sie sich bisher von ihrer Mutter alles sagen
ließ, alles nach ihrem Wunsch tat und eine gute Tochter war. Nun
hat sie auf einmal Antworten und schon so scharfe, daß ihrer Mutter
gestern vor Staunen und Schreck über dieses „fremde Kind“ der Atem
stehen blieb. Sie hat sich in den zwei Wochen sehr verändert: Sie sieht
besser und frischer aus, die Mutter sagt: nein, sie sieht nicht gut aus. Sie
ist heiter und lacht wieder, die Mutter hört es nicht. Sie ißt mit
Appetit, die Mutter bemerkt es nicht. Ich bin neugierig wie sich so
eine Mutter mit der Wirklichkeit abfinden wird.
Nun lebt wohl, wahrscheinlich schreibe ich bald
wieder.
Euer Linke.
Denke Dir, sie kennt die Bergfamilie und auch die
Nahovsky (seine Frau), wie sich eben in Alt Hietzing
fast alle Leute kennen. Sie hat aber starke
Abneigungen gegen beide Familien; das
Nähere werde ich Dir mündlich sagen.
So etwas Gesundes habe ich
noch gar nicht gesehen.

*) Jetzt da ich den Brief nochmals durchlese, erkenne ich erst, daß es vielleicht
der schönste Ausspruch ist, den ich je gehört habe.