Wien, 23. 4. 1915
liebe Thom, ich hatte vor meinem großen Erlebnis Strindbergs
„Offenes Meer“ angefangen und lese es jetzt anstandshalber weiter.
Aber ich komme jetzt nach und nach dorthin, wo Du neulich im Gespräche
hinkamst. Ich fürchte, daß Du glauben könntest, ich wolle Dir jetzt
alles nachsprechen. Nein, Du mußt mir glauben, daß ich das jetzt alles
selbst und neu finde. Ich habe ja nicht verstanden, was Du damals
sagtest und ich konnte mir daher auch kein Wort merken; was ich
aber jetzt fühle, zeigt sich in einigen Einzelheiten: Immer wieder
kommt es vor, daß Axel, wenn er mit dem Weibe seines Herzens
verkehrt hat, sich in die Einsamkeit begeben muß, um „mit sich allein
zu sein“, wieder „zu sich selbst zu kommen, weil er sich durch das
Gespräch am Weibe verloren hat“ und nun zu tun hat, sich wieder zu
finden. Ich verstehe dies gar nicht. Was heißt denn das, sich verlieren?
Entweder läßt mich eine Person kalt, dann gebe ich überhaupt nichts her
oder sie steht mir nahe, dann finde ich mich doch in ihr! Was sind das
für Menschen mit erheuchelten Erlebnissen? Ich vermute immer, sie leben
bloß in der Suggestion des Erlebens, erleben aber wirklich nichts. Ich
weiß, daß ich lange das für Erlebnis hielt, was nur die Einbildung war; durch
besonderes Raffinement des Verstandes kann man dem suggerierten
Erlebnis einen Schein von Wirklichkeit und Echtheit verleihen, der den
Laien besticht, aber auch nur den, der noch nichts erfahren hat. Daß mich
Inferno seinerzeit stark gepackt hat, war nur möglich, weil ich selbst in
einem ähnlichen Zustand steckte und mich deshalb nicht objektivieren
konnte. Im Inferno straft ihn seine Natur für sein unnatürliches Leben.
Er hätte den Fehler seines Lebens ausfindig machen müssen, dann wären
die schweren hysterischen Zustände geschwunden, und wir brauchten keinen
Inferno kaufen, der sicherlich nur psychopathisch wertvoll ist. Ich er-
innere mich dunkel, daß Du auch so davon sprachst. Aber nun mußte ich
es auch sagen, weil ich erst jetzt weiß, daß es so ist. Es ist ja auch merk=
würdig, daß ein Fünfzigjähriger das Buch Weiningers las und sprach:
Ecce homo! Das dürfte doch wohl nicht passieren! Übrigens fällt mir
liebe Thom, ich hatte vor meinem großen Erlebnis Strindbergs
„Offenes Meer“ angefangen und lese es jetzt anstandshalber weiter.
Aber ich komme jetzt nach und nach dorthin, wo Du neulich im Gespräche
hinkamst. Ich fürchte, daß Du glauben könntest, ich wolle Dir jetzt
alles nachsprechen. Nein, Du mußt mir glauben, daß ich das jetzt alles
selbst und neu finde. Ich habe ja nicht verstanden, was Du damals
sagtest und ich konnte mir daher auch kein Wort merken; was ich
aber jetzt fühle, zeigt sich in einigen Einzelheiten: Immer wieder
kommt es vor, daß Axel, wenn er mit dem Weibe seines Herzens
verkehrt hat, sich in die Einsamkeit begeben muß, um „mit sich allein
zu sein“, wieder „zu sich selbst zu kommen, weil er sich durch das
Gespräch am Weibe verloren hat“ und nun zu tun hat, sich wieder zu
finden. Ich verstehe dies gar nicht. Was heißt denn das, sich verlieren?
Entweder läßt mich eine Person kalt, dann gebe ich überhaupt nichts her
oder sie steht mir nahe, dann finde ich mich doch in ihr! Was sind das
für Menschen mit erheuchelten Erlebnissen? Ich vermute immer, sie leben
bloß in der Suggestion des Erlebens, erleben aber wirklich nichts. Ich
weiß, daß ich lange das für Erlebnis hielt, was nur die Einbildung war; durch
besonderes Raffinement des Verstandes kann man dem suggerierten
Erlebnis einen Schein von Wirklichkeit und Echtheit verleihen, der den
Laien besticht, aber auch nur den, der noch nichts erfahren hat. Daß mich
Inferno seinerzeit stark gepackt hat, war nur möglich, weil ich selbst in
einem ähnlichen Zustand steckte und mich deshalb nicht objektivieren
konnte. Im Inferno straft ihn seine Natur für sein unnatürliches Leben.
Er hätte den Fehler seines Lebens ausfindig machen müssen, dann wären
die schweren hysterischen Zustände geschwunden, und wir brauchten keinen
Inferno kaufen, der sicherlich nur psychopathisch wertvoll ist. Ich er-
innere mich dunkel, daß Du auch so davon sprachst. Aber nun mußte ich
es auch sagen, weil ich erst jetzt weiß, daß es so ist. Es ist ja auch merk=
würdig, daß ein Fünfzigjähriger das Buch Weiningers las und sprach:
Ecce homo! Das dürfte doch wohl nicht passieren! Übrigens fällt mir