Linke, Karl: Brief an Andreas Thom. Wien, 17.4.1915
Wien, 17. 4. 1915
liebster, bester Freund, Du mußt mir die Anrede nicht übel deuten, sie
ist wirklich keine Phrase, auch habe ich keine Bitte an Dich, die ich heuch=
lerisch verbergen müßte. Aber wenn etwas Besonderes in meinem Leben
eintritt, oder so: Wenn jemand mir sehr viel zu bedeuten beginnt, dann
erkenne ich erst, daß auch ein Freund viel bedeutet. Ich werde Dich sofort
überfallen, aber setze Dich doch nieder: Ich bin nicht mehr allein und übers
Jahr werde ich vielleicht verheiratet sein. Es ist wie ein Wunder, das ich
Dir nicht beschreiben kann; Du weißt das ja längst, ich habe so lange warten
müssen, bis ich das erleben durfte. Ich habe eine gänzlich falsche, nein, über=
haupt keine Vorstellung von Liebe und Weib gehabt; ich hatte wohl den richtigen
Instinkt, ging aber zu falschen Türen, die mir mein Beruf öffnete; ich schloß
absichtlich die Augen, um das zu übersehen, was meinem Instinkt nicht entsprach.
Ich wollte bloß jenes, das das Weib mit dem Knaben
gemeinsam hat, suchte es aber im falschen Körper. Heute fühle ich durch und
durch, daß mein Generalirrtum nicht in einem verdorbenen, verkehrten Emp-
finden - wo sollte ich es mir verdorben haben! - lag, sondern in einem
Gefühlskomplex, der so naiv und stark war, daß er sich über die fundamentalsten
Dinge des Geschlechts hinwegsetzen konnte, weil er sich erfüllen wollte und
mußte. Die Konsequenzen dieses Gefühls waren so grotesk, daß sie pervers
anmuten mußten. Und doch hatte dies alles gar nichts damit zu tun. Ich habe
nur die Person verkannt, die ich lieben muß; sie war immer ein klein
wenig ähnlich, aber sie war es nie. Und nach kurzer Zeit verschwand auch
die kleine Ähnlichkeit und ich war allein und enttäuscht. O, wenn ich
Dir sagen könnte, wie mir das plötzlich alles klar ist! Ich habe Dir in den
letzten Jahren nichts mehr erzählt von meinem Leben, aber es hat nicht geruht.
Es war keine schöne Zeit und ich muß Gott danken, daß er mich vor einem
äußeren Konflikt bewahrt hat, der mir auch mein äußeres Leben zerbrochen
hätte.
Ich habe es wohl gemerkt, wie Deine Freundschaft zu mir in der letzten
Zeit, vielleicht schon seit einem Jahre oder länger erkaltet ist und ich
hatte mir schon einige Male vorgenommen, mit Dir darüber zu sprechen.
Aber so etwas kann man nicht. Du konntest ja nichts dafür, es geschah
wahrscheinlich sogar gegen Deinen Willen, von Deiner immer mehr