Kolb, Alois: Brief an Arthur Roessler. o.O., 2.4.1922
2.4.22.
Lieber verehrter Herr Rößler.
Also so ist das Telegramm zu deuten. Wären Sie in
meinem Atelier, würden Sie die Arbeiten entstehen
sehen, würden wir uns sprechen und verstehen, so
würden Ihre Einwendungen gewiß ganz anders aus=
sehen. Mißverständniße wachsen mit der Entfernung.
Ich bin viel zu viel Arbeitsmensch, als dass ich nicht
in jedem Einwande instinktiv und objektiv das
Sachliche heraussuchen würde, denn nur in dem eigenen
objektiven Urteil liegt ja der Fortschritt, den man ja mit
jeder neuen Linie machen will. Es gibt wenig Einwände
zu einer künstlerischen Arbeit, die man sich nicht selbst
während der Arbeit schon gesagt hat. Ich gehe Ihre Worte
durch und will Ihnen sagen, was sich mit meiner
Ansicht deckt und was fremd ist und mißverstanden.
Ob das Blatt gänzlich verfehlt ist, ist Ansichtssache.
Ganz große Beispiele: Es gibt Leute, die halten die Strauß=
musik für oberflächlich, virtuosenhaft spekulativ, dann
wieder Leute, die sagen „Rubens ist Kitsch”, Rembrandt
desgleichen und von Menzel geht das Urteil über Dürer,
dass der Kerl nicht zeichnen konnte u. s. w. Was für Leute?
Leute, die sich mit dem Gegenstande ihrer Abneigung meist
intensiv beschäftigen. Ich will damit nur sagen, wie schutz=
los die Kunst jedem Für u. Gegen ausgesetzt ist, aber
auch, dass sie es ertragen muß können.