WIEN XIX, OSTERLEITENGASSE 7, 9. IV. 30.
Lieber Herr Lissauer,
Am Rande des Waldes stand ein wilder
Rosenstrauch. Er war frisch und schön und
blühte. Die Schmetterlinge und die Hum-
meln, die Finken und die Amseln, der
benachbarte Rittersporn und die zarten
Mohnblumen liebten ihn und sie geiz-
ten nicht mit ihren Huldigungen. „Lieber,
wilder Rosenstrauch,“ sagten sie ein ums
andre Mal, „du bist so schön und
lieb! Wir sind stolz auf dich. Wir
freuen uns an dir. Blühe nur! Blühe!“
Und er ruhte selig in sich und blüh-
te.
Eines Tages kam der Herr des Wal-
des vorbei, er sah den wilden Rosen-
strauch und blieb davor stehen. Der
Rosenstrauch blickte ihn strahlend
an, vor Freude errötete er in allen
seinen Blüten, er machte sich so
schön, als er nur konnte und sagte:
„Gefalle ich Dir?“ – Der Herr des Wal-
des sah nicht besonders begeistert
drein; „nun ja“, sagte er, „du bist
ja ganz nett. Aber was für einen Sinn
Lieber Herr Lissauer,
Am Rande des Waldes stand ein wilder
Rosenstrauch. Er war frisch und schön und
blühte. Die Schmetterlinge und die Hum-
meln, die Finken und die Amseln, der
benachbarte Rittersporn und die zarten
Mohnblumen liebten ihn und sie geiz-
ten nicht mit ihren Huldigungen. „Lieber,
wilder Rosenstrauch,“ sagten sie ein ums
andre Mal, „du bist so schön und
lieb! Wir sind stolz auf dich. Wir
freuen uns an dir. Blühe nur! Blühe!“
Und er ruhte selig in sich und blüh-
te.
Eines Tages kam der Herr des Wal-
des vorbei, er sah den wilden Rosen-
strauch und blieb davor stehen. Der
Rosenstrauch blickte ihn strahlend
an, vor Freude errötete er in allen
seinen Blüten, er machte sich so
schön, als er nur konnte und sagte:
„Gefalle ich Dir?“ – Der Herr des Wal-
des sah nicht besonders begeistert
drein; „nun ja“, sagte er, „du bist
ja ganz nett. Aber was für einen Sinn