Preradović, Paula von: Brief an Ernst Lissauer. Wien, 9.4.1930
gestorbenes Dorngestrüpp schwankte im Wind.
Der Herr des Waldes wandte sich an das Getier,
Schmetterlinge, Hummeln, Amseln und Finken,
das dort um den Weg war, und sagte: „Gab
es denn nicht früher hier einen Rosenstrauch?
Wo ist er hingekommen?“ „Ach, der arme
Rosenstrauch!“ riefen alle; „er wurde
krank und ist gestorben.“ „Was für eine
Krankheit bekam er denn?“ fragte der Herr.
„Es muß eine Gemütskrankheit gewesen sein,“
sagten die Tiere. „Es fing damit an, dass er,
der immer gut und freundlich gewesen
war, uns ungebildetes Volk schimpfte und
nicht mehr mit uns umgehen wollte. Dann
wütete er gegen seine eigenen Blüten, und
Nacht für Nacht hörten wir ihn trostlos wei-
nen. Es ist schade um ihn, er war ein so
lieber und schöner Rosenstrauch.“
„Ach nein, es ist nicht schade um ihn,“ sag-
te der strenge Herr, „denn er hatte nicht die
Kraft, sich zu wandeln. Ich dachte mir
gleich, daß er ganz talentlos sein müsse. Ver-
liert nicht eure Zeit mit unfruchtbarer
Trauer. Kommt lieber in meinen Garten u.
bewundert meine Centifolien. Da werdet ihr
sehen, was schön ist.“ –
Ausser dieser Parabel, die mir heute Nacht ein-
gefallen ist, will ich Ihnen mitteilen, daß
mein Mann versprochen hat, die Notiz über
die Augsburger Aufführung Ihres Dramas
Sonntag einzurücken.
Viele herzliche Grüße
Paula Molden-Preradović